Zu den heutigen Lesungen ließe sich viel sagen; allein zur ersten Lesung: Sie enthält das Zentrum des biblischen Gottesbildes; nicht nur des jüdischen; auch für uns Christen: Gott ist keine bloße Idee, über die man nachdenken kann und die eben größer ist als alles, was man denken kann. Er ist eine Person, ein Gott, der da ist für uns. Er begleitet uns, er leidet mit uns und freut sich mit uns. Er sagt, sein Name ist „Ich bin da“ (Ex 3). Und auch zum Evangelium könnte man viel sagen: im ersten Teil geht es um die Frage, warum uns Gott leiden lässt, und das ist sicher eine der fundamentalsten Fragen der menschlichen Existenz. Dazu haben wir ja am 1. Fastensonntag im Hirtenwort unseres Bischofs, wie ich finde, sehr schöne Worte gehört.
Überhaupt ist das ganze Evangelium heute alles andere als angenehm und gefällig: Da ist von unschuldigen Opfern die Rede und vom Baum, der umgehauen werden soll und davon, dass alle sterben. Und von Umkehr ist die Rede, ohne die es kein Leben gibt. Ist das wirklich eine frohe Botschaft? Immer, wenn ich dieses Evangelium höre, stelle ich mir die Frage: Meint er das wirklich so: Wir sterben, wenn wir uns nicht bekehren, also wir sterben, weil wir uns nicht bekehren?
Wie oft wurde genau das von den Kanzeln herab gepredigt: Dass Gott diejenigen bestrafen werde, die sich nicht bekehren oder, wie es in der Luther-Übersetzung heißt: Buße tun. Und was für Folgen hatte dieses Bild eines strafenden Gottes? Wie viele Menschen wurden damit in tiefste Ängste gestürzt – bis hin zu massiven psychischen Schäden? Und bei wie vielen Christen wurde gerade dadurch „eine Reifung des Glaubens verhindert, so dass sie zeitlebens an magischen, angstbesetzten, Vorstellungen hingen, ja … sogar vehement als den angeblich wahren Glauben verteidigten“ (1).
Aber Jesus macht keine Angst. Sein Weg ist ein anderer. Jesus ist Realist. Natürlich weiß er, dass wir alle sterben werden. Ausnahmslos! Aber es kommt doch darauf an: in welchem Zustand, in welcher Hoffnung, in welcher Erwartung. Denn darum geht es hier: um Hoffnung, um Leben, welches Ziel unser Leben hat. Dann ist es aber nicht egal, wie wir unser Leben führen. Denn das könnte man meinen, wenn man sowieso stirbt, und viele denken ja so: Ist eh irgendwann alles aus, also kommt’s nicht darauf an, ob ich hier auf Kosten anderer lebe. Hauptsache, mir geht’s gut!
Dagegen setzt Jesus das Gleichnis vom Baum und den Früchten. Denn natürlich geht es Jesus darum, welche Früchte mein Leben bringt. Welche Früchte bringe ich? Welche Früchte bringen wir – als Menschen, als Christinnen und Christen, als Kirche. Bin ich nur für mich selbst da? Sind wir für uns selbst da? „Me first?“ An dieser Frage entscheidet sich buchstäblich alles.
Fangen wir mit der Kirche an! Dietrich Bonhoeffer sagte einmal: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist“ (2). Und auch nach katholischem Verständnis gilt: Die Kirche ist niemals Selbstzweck, nie nur um ihrer selbst Willen da. Kirche ist ein Instrument, Mittel zum Zweck, nichts anderes: „Das Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott“ (vgl. LG 1), wie es das II. Vatikanische Konzil sagte, damit wir Menschen hier in dieser Welt Gottes unendliche Liebe erfahren. Wir sollen eine Kirche sein, die versucht, den Menschen zu dienen; im besten Sinn diakonisch sein. Denn nur so bringen wir Früchte – nicht für uns selbst, sondern für die anderen.
Genau darum geht es heute im Evangelium. Da steht das Wort „umkehren“: „… wenn ihr nicht umkehrt!“ Das griechische Wort, das hier im Original für „umkehren“ steht: metá-noein (μετάνοειν) heißt wörtlich übersetzt: „das Denken umwenden“, also weiter und größer denken, die Perspektive wechseln; von sich selbst weg-sehen und die Anderen in den Blick nehmen; sich ihnen zuwenden. In den Luther-Übersetzungen steht meist „Buße tun“ dafür. Das ist sicher auch gemeint, aber eben nicht nur.
Martin Luther meinte, auf Augustinus zurückgehend, ein Sünder sei ein Mensch, der in sich selbst verkrümmt ist, ein „homo in se incurvatus“; also ein Mensch, der so in sich verkrümmt ist, auf sich selbst gerichtet ist, dass er nur noch sich selbst sieht, seinen eigenen Bauch – quasi. Davon umzukehren, das meint „Umkehr“ hier. Und zwar nicht nur theoretisch, sondern ganz konkret; im Alltag: für andere da zu sein, liebevoll und barmherzig, so dass Barmherzigkeit und Liebe zum letzten Kritierium meiner Handlungen werden; letztlich für alles, auch für unseren Umgang miteinander. Nur wenn wir so umkehren, bringen wir Früchte; nur dann haben wir eine Zukunft und werden leben – als einzelne Menschen wie als Kirche.
Diese Umkehr, dieses Weiter-Denken, ist immer nötig und möglich! Darum geht es auch in der Fastenzeit. Nicht nur ums Verzichten. Uns umzuwenden von Selbstbezogenheit und Egoismus (der Gier nach immer mehr, wie es in der 2. Lesung heute hieß), hin zu dem, der das Leben bringt, die Fülle des Lebens, Christus, der Herr.
Wer schon einmal einen Baum gepflanzt hat, weiß, wie lange es dauert, bis der auch nur eine Frucht bringt. Ich hoffe, wir haben die Zeit, und wir geben uns die Zeit, und wir geben einander die Zeit, zu reifen und Früchte zu bringen. Dass da jemand ist, der uns düngt und immer wieder den Boden unserer Hartherzigkeit auflockert und der Vertrauen in uns hat und uns niemals aufgibt. Der Gott, der dem Mose zugesagt hat: „Ich bin da.“ Ich gehe mit euch – egal, was passiert (vgl. Ex 3). Er festige in uns das Vertrauen darauf, dass er genau so ist wie der Winzer hier im Evangelium, und genauso stärke er uns, jede und jeden, darin, unseren Blick zu wenden, weiter zu denken, für Andere da zu sein und Boten seiner Liebe zu werden und dadurch „Früchte zu bringen“.
(1) Jürgens, Stefan: Von der Magie zur Mystik. Der Weg zur Freiheit im Glauben. Ostfildern: Patmos-Verlag, 2. Aufl., 2021, S. 7.
(2) Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung. Aufzeichnungen und Briefe aus der Haft. DBW, Band 8, S. 560.
(Predigt in der Wort-Gottes-Feier zum 3. Fastensonntag, 22.3.2025, in St. Hildegard, Berlin-Frohnau)
Bild: Christusmonogramm in Santa Cecilia in Trastevere, Rom. Foto: privat