Lässt Gott uns leiden?

Evangelium

Ein blinder Bettler am Straßenrand, angewiesen auf Almosen, hoffnungslos eingeschlossen in die eigene Dunkelheit. Der erfährt, dass Jesus kommt. Und plötzlich beginnt es in ihm zu arbeiten, bricht sich eine winzige Hoffnung Bahn gegen große Verzweiflung – und er beginnt zu schreien, laut und immer lauter.

Denn er spürt: Jetzt ist der entscheidende Moment gekommen, den darf er nicht vorbeigehen lassen! In all seinem Leid spürt er: Der kann mir helfen. Er will – wie alle anderen – auch ein menschenwürdiges Leben, will auch sehen können, will nicht mehr leiden (vgl. Gemeinde-Bibel, Lesungen … für die Wochentage, Stuttgart: Kath. Bibelwerk, 2007, S. 513).

Er schreit: „Hab Erbamen mit mir, Jesus!“ (Lk 18, 38) Und Jesus stellt ihm die alles entscheidende Frage: Was soll ich für dich tun? Und er antwortet: „Ich möchte sehend werden.“ (Lk 18, 41) Und Jesus lässt ihn, und von da an folgt er Jesus auf seinem Weg.

Eine Hoffnungsgeschichte! Die meisten werden sich vorstellen können, wie beglückend diese Heilung ist und diese Hoffnung. Aber die meisten von uns werden genauso fragen: Warum dann all das andere Leid, es es tagtäglich gibt? Warum lässt Gott dann mich leiden, vielleicht nicht so wie den blinden Bettler, aber doch: Die meisten von uns erfahren Leid, Krankheit, Sorge, sogar Verzweiflung manchmal.

Warum lässt Gott uns leiden? Das ist eine der fundamentalsten Fragen unserer menschlichen Existenz. Warum gibt es so viel Leid, wenn es doch einen Gott gibt, an den wir glauben, der nichts anderes als Liebe ist, nicht anderes kann als zu lieben?

Lässt Gott uns leiden?

Am ersten Fastensonntag haben wir das Hirtenwort unseres Bischofs gehört. Auch da wurde diese fundamentale Anfrage an unseren Glauben gestellt – und sie wurde nicht beantwortet. Denn wir können sie nicht beantworten – zumindest nicht hier und jetzt. Und wenn wir noch so tief glauben, noch so viel nachdenken, noch so viel wissen: Auf die Frage, warum Gott das Leiden zulässt, finden wir keine befriedigende Antwort.

Wir können sagen: Unsere Welt, die Natur, ist eben nicht vollkommen, sie ist im Werden, und noch nicht am Ziel; da gehören der Mangel, das Versagen, Krankheit und Vergehen einfach dazu. Oder wir können sagen: Gott hat uns Menschen und der ganzen Schöpfung eben Freiheit geschenkt. Da kann Freiheit auch zum Schlechten missbraucht werden. Dann gehören Sünde und Schuld einfach dazu.

Aber das alles beantwortet uns die Frage nicht, warum Gott das alles zulässt. Erst am Ziel unseres Weges werden wir, so hoffen wir, die Antwort erhalten – von Gott selbst. Bis dahin zählt die Unbegreiflichkeit des Leids für uns zur Unbegreiflichkeit Gottes dazu.

Und was macht der blinde Bettler angesichts dieser Unbegreiflichkeit auch seines Leids? Er schreit. Er schreit zu Jesus. Er ruft: „Hab Erbarmen mit mir, Jesus!“ Und dann geschieht, was für uns – gerade für uns heute – ein unfassbares Wunder ist: Jesus hört ihn, und er stellt die erste Frage, mit der alle Seelsorge beginnen muss. Er fragt den Bettler: „Was soll ich dir tun?“ (Lk 18, 41) Was willst du, dass ich für dich tue. Das ist die Grundfrage, die auch wir jedem Menschen, der uns begegnet, stellen sollten: Was soll ich für dich tun? So wie Jesus es tut.

Der Bettler vertraut Jesus, er setzt seine ganze Hoffnung, seine Zukunft, sein Leben, ganz auf ihn. Und Jesus enttäuscht ihn nicht. Er macht ihn sehend. Denn Gott enttäuscht nicht. So wie wir es in der ersten Lesung gehört haben: Er gibt uns Leben zurück und richtet uns auf. Und genau dafür haben wir in der Kirche das Sakrament der Krankensalbung. Damit wir (hier und jetzt) die heilende und helfende Nähe Gottes erfahren, die Stärkung, die Jesus uns zusagt. Denn in ihm wird Gottes eigene Liebe menschliche Liebe. Er leidet mit uns, er freut sich mit uns, er lässt uns nie im Stich. Auf ihn können wir bauen, unser Leben und unser Sterben – voll und ganz. Der frühere Bischof von Mainz, Hermann Kardinal Volk, schrieb einmal:

Was ist das Größte? – Die Liebe.
Was macht uns glücklich? – Die Liebe.
Was bleibt, wenn wir sterben? – Die Liebe.
Was allein verdient Anbetung? – Die Liebe.“
(vgl. Hermann Volk: Gott liebt dich. Worte der Orientierung und Zuversicht. Freiburg, 1992, S. 54.)
Die Liebe, die in Jesus Mensch geworden ist, und die bei uns bleibt, alle Tage und uns nie verlässt.

(Predigt in der Hl. Messe zum Empfang des Sakraments der Krankensalbung, 29.3.2025, Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf)

Bild: privat

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