Frauengestalten in der Passion Jesu, heute: die Heilige Veronika.
Wir alle wissen: Die allermeisten Personen, die uns in den Evangelien begegnen, sind nur dort überliefert; nur innerhalb der Bibel. Historisch (außerhalb der Bibel) belegbar sind – neben dem Herrn selbst – nur sehr wenige. So kennen wir auch alle Frauengestalten, die in der Passion eine Rolle spielen, nur aus den Evangelien: die Frau des Pilatus, Maria mit dem Salböl, die Magd am Feuer, selbst Maria, die Mutter Jesu – über sie alle wissen wir nur das, was im biblischen Text zu finden ist.
Und Veronika, um die es heute geht: Sie kennen wir nicht einmal daher, denn sie kommt in der Bibel gar nicht vor. Ob es sie also historisch überhaupt gab, können wir nicht sagen. Aber kommt es darauf allein an? Biblische Texte sind keine Nachrichten wie in den Zeitungen, und die Personen, um die es geht, bekommen nicht allein dadurch Bedeutung, dass wir über sie so viel wissen, wie z.B. über Angela Merkel oder Königin Elisabeth oder Kleopatra. Das sind Personen, über die wissen wir ungeheuer viel. Und wir glauben, sie deshalb zu kennen, weil sie historisch erforscht sind.
Wenn wir aber über „Veronika“ sprechen, dann nicht wie über diese historischen Personen. Das ist klar. Vielleicht war sie nur Legende. Vielleicht gab es sie. Vielleicht sind die Aussagen über sie aber auch sinnbildlich zu verstehen. Der früheste Text, in dem Veronika und die Geschichte vom Schweißtuch vorkommen, stammt aus dem 4. Jahrhundert: Die sog. „Pilatus-Akten“ des sog. „Nikodemus-Evangeliums“. Das sind Texte, die viel ausführlicher, als es im Neuen Testament der Fall ist, den Prozess und die Kreuzigung Jesu beschreiben und die bis in die Neuzeit eine große Wirkung entfaltet haben. Aber die eben nicht in die biblischen Bücher aufgenommen worden sind.
Die Geschichte Veronikas kennen wir nur daher. Aber den Christinnen und Christen in der späten Antike und im Mittelalter machte das gar nichts. Die erzählten immer fort die Geschichte von Veronika, die am Weg nach Golgotha steht und Jesus das Schweißtuch reicht. Und die haben sie sogar zum Teil identifiziert mit der sog. „blutflüssigen Frau“, die im Matthäus- und um Markusevangelium vorkommt; die am Weg Jesu Gewand berührt und allein dadurch geheilt wird.
Im sog. Nikodemus-Evangelium trägt sie übrigens noch den griech. Namen: Berenike; erst später wurde der dann latinisiert in Veronika. Und der Name „Veronika“ wiederum wurde dann etymologisiert als Zusammensetzung aus lateinisch „vera“, also „wahr“, und griechisch „Εικών“ für „Bild“, also in „wahres Bild“ ausgedeutet. Der Name also Programm: Veronika sei diejenige, die uns das wahre Bild Jesu zeigt.
Und so wurde sie dann in der Kunst durch die Jahrhunderte unzählige Male dargestellt. In München in der Alten Pinakothek hängt z. B. ein wunderbares Gemälde aus dem 14. oder frühen 15. Jahrhundert, das sie mit dem Tuch darstellt, auf dem Jesus mit der Dornenkrone abgebildet ist. Oder wenn Sie in Rom in den Petersdom gehen: Da steht in der Vierung um Berninis Hauptaltar eine riesige Kolossalstatue der Hl. Veronika mit dem Schweißtuch, über 4 Meter groß. Und in den Kreuzweg-Stationen wird Veronika oft als 6. Station gezeigt.
Immer versinnbildlicht sie das Mitgefühl, das Mitleid, die Empathie, einer Frau, die dem leidenden Jesus auf der Via Dolorosa zur Seite springt und helfen will, indem sie ihm ein Tuch reicht, um den Schweiß abzuwischen und auf dem sich dann eben – der Legende nach – das Abbild Jesu eingezeichnet hat. In der Kaiserlichen Schatzkammer der Wiener Hofburg hängt heute noch ein solches Tuch, von dem man bis ins 19. Jahrhundert annahm, dass es echt sei. Weltweit existieren – glaube ich – sechs solcher Tücher. Natürlich weiß man heute, dass diese Tücher aus viel späterer Zeit stammen.
Aber entscheidend ist immer noch die Botschaft des Mitgefühls, für das die Figur der Veronika steht. Eine Frau, die einem Leidenden zur Hilfe kommen will. Sonst nichts. Mehr kann man gar nicht sagen. Aber ich finde, das reicht schon als Botschaft.
In einer Zeit, in der heute einer der reichsten Männer der Welt sagt, das Grundproblem in dieser Welt sei das „Mitgefühl“, die „Empathie“. Er hält sie für die „fundamentale Schwäche der westlichen Zivilisation“, und man müsse Empathie „ausmerzen“. In dieser Zeit wird eine Figur wie Veronika für mich zu einer Heldin. Denn von ihr geht doch nichts anderes aus als die Botschaft Jesu selbst: Sie trägt nicht nur Christi Bild in ihren Händen; sie trägt es vor allem im Herzen. Sie lebt in ihrem Tun; in dieser kleinen Geste, die Liebe Gottes, die in Jesus menschliche Liebe wurde. Denn in ihm ist Gottes Liebe Mensch geworden. Wie wir es im Johannesevangelium hören: „Wer mich sieht, sieht den Vater.“ (Joh 12,45), den Gott, der nichts als Liebe ist; der nichts kann, außer zu lieben, wie Frère Roger Schütz es einmal sagte.
Denn von Gottes Liebe können sagen, „dass sie bedingungslos ist, keine Vorbehalte macht. Gott kennt kein: „Ich liebe dich, wenn du …“. Im Herzen Gottes gibt es kein „Wenn“ und „Aber“. Gottes Liebe zu uns hängt nicht davon ab, was wir sagen oder tun, wie wir aussehen oder wie intelligent wir sind, welche Erfolge wir vorzuweisen haben oder welches Ansehen wir genießen.
Gottes Liebe zu uns bestand, schon bevor wir geboren wurden, und wird noch bestehen, wenn wir längst nicht mehr sind. Gottes Liebe währt von Ewigkeit zu Ewigkeit … .“ (Henri Nouwen, zitiert nach: https://schott.erzabtei-beuron.de/fastenzeit/woche4/SonntagC.htm). Genau das versinnbildlicht die Hl. Veronika. Dieses Bild Gottes zeigt sie uns.
(Predigt in der ökumenischen Passionsandacht am 2.4.2024 in Maria Gnaden, Berlin-Hermsdorf)
Bild: Veronika mit dem Schweißtuch, Statue von Francesco Mochi, um 1630, St. Peter im Vatikan. (Foto: privat)