
Wir alle kennen biblische Erzählungen, bei denen wir das Gefühl haben: Wir haben sie schon zu oft gehört; wir kennen sie zu gut, und dann sind wir zu schnell damit fertig. Wir merken gar nicht mehr, wie revolutionär sie eigentlich sind. Dazu gehört sicher auch die Parabel vom barmherzigen Samariter. So oft schon haben wir sie im Gottesdienst gehört, und ihre Botschaft ist klar und eindeutig: Wenn jemand in Not ist, dann geh hin und hilf ihm oder ihr! Fertig.
Wir sind hier im Zentrum des Lukas-Evangeliums, im Kern der Botschaft Jesu. Heute und am nächsten Sonntag hören wir, was wirklich notwendig ist, worum es im Kern geht beim Christ-Sein, wenn wir Jesus nachfolgen wollen, wenn wir, wie es hier heißt das Leben haben wollen. Übernächsten Sonntag schließt Jesus diesen Kern seiner Botschaft dann mit dem Vaterunser ab.
Heute also: Was sollen wir tun? Wie sollen wir handeln? Eine klare ethische Frage, und wenn wir ehrlich sind, wissen wir die Antwort auch immer schon: Wenn du jemanden siehst, der in Not ist, dann hilf ihm!
Für den Gesetzeslehrer, der Jesus hier fragt, scheint die Sache nicht ganz so einfach zu sein. Das jüdische Gesetz schreibt vor: ‚Liebe Gott und Deinen Nächsten wie Dich selbst!‘ Und Jesus sagt: Genau so ist es. „Handle so und du wirst leben.“ Worauf der Gesetzeslehrer dann die völlig plausible Frage stellt: „Und wer ist mein Nächster?“ Um darauf zu antworten, erzählt Jesus diese Parabel vom Mann, der ausgeraubt und zusammengeschlagen wurde, und weder Priester noch Levit haben ihm geholfen. Nur der Fremde, der eigentlich ein Feind der Juden ist, der Samariter, der hat Mitleid und kümmert sich um ihn.
Doch das beantwortet nicht die Frage des Gesetzeslehrers, wer denn nun mein Nächster sei, wem genau ich denn helfen müsse?
Der Gesetzeslehrer – wir haben es zu Beginn des heutigen Evangeliums gehört – will Jesus auf die Probe stellen, wörtlich steht da: ‚will ihn in Versuchung führen‘ – das gleiche Wort wie beim Teufel in der Wüste. Er will ihn also mit seiner Frage abbringen von dem, was richtig ist. Nur deshalb die Frage: Wer ist denn mein Nächster? Um zu zeigen: Es geht gar nicht, jeden Nächsten bedingungslos zu lieben; alle zu lieben, denen wir begegnen. Wie soll das gehen? Die ethische Regel, die sich auch Jesu hier zu eigen macht, das Gesetz, sei also praktisch undurchführbar, findet der Gesetzeslehrer. Und wenn wir ehrlich sind, denken wir doch auch oft genauso. Wie komme ich denn dazu, jedem anderen zu helfen? Meist gepaart mit dem Gedanken: Mir gibt ja auch keiner was! Vielleicht hält mich der andere sogar für dumm, wenn ich ihm helfe, oder er nützt mich nur aus. Außerdem: Ich habe gar keine Zeit, allen zu helfen. Und wozu gibt es schließlich den Staat oder die Caritas? Die sind doch dafür da. Wenn wir ehrlich sind, kennen wir alle solche Gedanken.
Aber Jesus dreht den Spieß um. Nicht wer mein Nächster ist, interessiert ihn. Sondern wem ich – durch das, was ich tue – zum Nächsten werde. Nicht wie ich die Sache einschätze, interessiert ihn, sondern wie das Opfer die Sache sieht. Nur wenn ich barmherzig handle und an dem konkreten Opfer eben nicht vorbeigehe (und es gibt immer gute Gründe vorbeizugehen), werde ich zum Nächsten für das Opfer.
Und warum dreht Jesus den Spieß um? Weil er weiß, wie wir Menschen sind. Denn Jesus ist wirklich ein Realist. Auch ich kann in jedem Augenblick zum Opfer werden und Hilfe benötigen. Auch wenn ich auf noch so einem hohen Ross sitze. Auch ich kann Not leiden und leide wahrscheinlich schon Not. Niemand kann in den anderen hineinsehen. Aber Jesus weiß es, wie es uns Menschen geht. Und wenn dann einer nicht vorbeigeht, sondern stehen bleibt und hilft, dann ist der zu meinem Nächster geworden.
Sie alle kennen wahrscheinlich „den berühmten Spielfilm „Titanic“. Da will die lebensmüde Rose über die Reling des Schiffes in den Ozean springen. Und der zufällig vorbeikommende Jack bemerkt es und verwickelt sie in ein Gespräch, um sie davon abzuhalten. Als Rose immer noch davon redet hinunterzuspringen, sagt Jack, dann müsse er hinterherspringen und sie retten. Denn, so sagt Jack: ‚Jetzt geht es mich auch etwas an‘.“ (Vgl.: https://www.bernhard-lichtenberg.berlin)
Genau das ist die Logik des barmherzigen Samariters. Es geht mich etwas an, wenn ich stehenbleibe und nicht vorbeigehe, wenn ich einem Menschen in die Augen schaue.
Der frühere Papst Franziskus hatte einmal Priester und Diakone in Rom eingeladen in den Petersdom, und da durfte man Fragen stellen: Und einer fragte, woran er merke, ob er geeignet bin, Priester oder Diakon zu sein. Und Franziskus antwortete: Es geht einfach darum, ob du bereit bist, auf die Straße zu gehen und die schmutzige Hand eines Mitmenschen zu halten und zu denken: Für mich bist du Jesus. Und ihn zu fragen: Was willst du, dass ich für dich tue?
Es geht einfach darum, ob ich einem zum Nächsten werde.
(Predigt in der Wort-Gottes-Feier zum 15. Sonntag im Jahreskreis C, 12.7.2025, in St. Hildegard, Berlin-Frohnau)
Bild: ©️ Anne Greiner, nach: Julius Schnorr von Carolsfeld: Der barmherzige Samariter, 1833.